Petra arbeitet als Hospizbegleiterin. Ehrenamtlich, neben ihrem Beruf. Sie konfrontiert sich freiwillig mit einem Thema, vor dem die meisten Menschen lieber die Augen verschließen: dem Tod. Doch Petra sagt: „Die Auseinandersetzung mit dem Sterben hat mich dem Leben näher gebracht.“
Die Tür des Cafés schwingt auf und Petra kommt herein. Sie ist mittelgroß, hat kinnlange braune Haare. Ihre Ausstrahlung füllt auf der Stelle den Raum. Sie trägt keinen Schmuck, kaum Make-Up. Die Kleidung ist knallig. Die gelernte Modeverkäuferin sieht man ihr noch immer an, auch wenn sie schon lange nicht mehr in diesem Job arbeitet. Ihre braunen Augen blitzen fröhlich. Unvermittelt drängt sich die Frage auf: Wie sieht eigentlich die typische Hospizbegleiterin aus?
Der holprige Weg zum Ehrenamt
Man hatte nicht gerade auf sie gewartet. Dieses Erfahrung macht Petra, als sie sich im Frühjahr 2019 entschließt, die Ausbildung zur Hospizbegleiterin zu machen. „Ich hatte einfach Zeit übrig und wollte meine optimistische Lebenseinstellung weitergeben“, sagt sie über ihre Motivation. Die 52-Jährige lacht kehlig, als sie sich an den holprigen Weg zu ihrem Ehrenamt erinnert.
Bei vier Hospizkreisen bewarb sie sich schriftlich, wurde auch von allen zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Doch weiter kam sie nicht. „Mal war das fehlende Auto ein Problem, mal fühlte ich mich einfach nicht willkommen.“ Bei einer Stelle sagte man ihr knallhart: ‚Solche Leute wie sie kennen wir schon!‘ Zack, war sie in einer Schublade, in die sie gar nicht rein wollte: Kinderlose Businessfrau, die jetzt mal „was Soziales“ tun will. Und sich die Hospizbegleitung wahrscheinlich zu einfach vorstellt. Erst bei der vierten Anlaufstelle, dem Hospizkreis Ottobrunn, passte es auf Anhieb.
“Ich war froh, so viel Zeit mit ihm verbracht zu haben.“
Hospitbegleiterin Petra
Willkommen im Paralleluniversum
Sterbende Menschen begleiten – nicht gerade das beste Thema für den Party-Smalltalk oder ein Date. Unsere Leben sind voll von Zoom-Meetings, Rooftop-Parties, Instagram-Filtern, Elternabenden und To-Do-Listen. Da hat der Tod keinen Platz. Sterben findet nicht in der Öffentlichkeit statt, sondern in einer Art Paralleluniversum aus Krankenhäusern, Palliativstationen und Hospizen, zu dem der überwiegende Teil der gesunden Menschen keinen Zugang hat oder wünscht. Die Angst vor der eigenen Endlichkeit lässt die meisten die Augen verschließen vor dieser Welt. Dabei ist der Tod, genauso wie die Geburt, die eine existenzielle Erfahrung, die alle Menschen vereint. Weil er ausnahmslos jeden betrifft.
Mit dem fiktionalen Sterben sieht es in unserer Gesellschaft hingegen ganz anders aus. Vom sonntäglichen Tatort-Ritual über den blutrünstigen Schweden-Krimi bis zum Krimi-Dinner. Kontrolliertes Gruseln in selbstgewählten Dosen auf der gemütlichen Couch. Gesellschaftlich akzeptierter Nervenkitzel.
Petra war in ihrem Leben einige Male mit dem Tod konfrontiert. Beide Eltern sind schon verstorben. Und dann ist da Christian*, ein befreundeter Arbeitskollege, mit dem sie gerne abends um die Häuser zieht. Und der ihr eines Tages offenbart, dass er an einem Gehirntumor leidet. Wie schlimm es um ihn steht, verschweigt er. Fünf Monate später ist er tot. „Was haben wir zusammen gelacht. Ich war froh, so viel Zeit mit ihm verbracht zu haben.“
Hospizbegleitung beginnt mit dem Blick nach innen
Petras Ausbildung zur Hospizbegleiterin startet im Juli 2019. In insgesamt 120 Unterrichtseinheiten, bestehend aus Vorträgen, Übungen und Gesprächen, lernt sie die Hintergründe der Hospizbewegung kennen. Sie erfährt, wie man mit Klienten in Kontakt kommt und kommuniziert. Wie man seine eigenen Grenzen erkennt und setzt. Aber auch, in welchen Phasen Trauer verläuft und wie der Sterbeprozess konkret vor sich geht.
Hospizbegleitung – das ist auch eine Begegnung mit sich selbst. Deshalb macht es Sinn, den Blick zunächst nach innen zu richten und konkrete Fragen zu stellen: Welche Ängste schlummern in mir? Was möchte ich in der Begegnung mit Sterbenden lernen? Was habe ich zu geben?
Besonders beeindruckt haben Petra die Rollenspiele im Unterricht. „Mal war man der Patient, mal der Begleiter. Und jeder hatte eine ‚hidden agenda‘, einen Zusatzauftrag, von dem der andere nichts wusste, zum Beispiel: ‚Du kannst nicht sprechen‘. Da bekam man schon einen sehr guten Eindruck davon, wie eine Begleitung ablaufen kann. Und auch, wie man sich als Patient fühlt. Das war eine Art Fahrsimulator“, beschreibt die gebürtige Schwarzwälderin. 90 Prozent der Teilnehmer*innen sind Frauen. Die meisten kommen aus dem Pflegebereich. Petra ist da eine Exotin. Sie ist ausgebildete Betriebswirtin, arbeitet als Teamleiterin in einem IT-Unternehmen und ist Chefin von 25 Leuten.
“Es sind diese Blicke von totalem Entsetzen.”
Hospizbegleiterin Petra
Der Drang zum Verdrängen
Für die Angst vor dem Tod und das Verdrängen dieses unangenehmen Themas gibt es eine wissenschaftliche Erklärung aus der Sozialpsychologie: Die Terror-Management-Theorie. Diese besagt, dass das Wissen um die eigene Endlichkeit im Menschen ständigen Terror auslöst. Ein Stück weit ist diese Angst etwas Gutes, da sie uns davor bewahrt, sich selbst übermäßigen Gefahren auszusetzen. Doch bei permanenter Angst fühlt man sich gelähmt und kann im schlimmsten Fall den Alltag irgendwann nicht mehr bewältigen.
Deshalb ist es ganz normal, dass Menschen diesen Drang zum Verdrängen entwickeln. Doch Verdrängung von negativen Emotionen wie Trauer und Angst vor dem Tod ist wie ein Ball, den man versucht, unter die Wasseroberfläche zu drücken und der doch immer wieder hoch kommt.
Wie weit verbreitet diese Angst ist, sieht Petra auch an den Reaktionen anderer Menschen, wenn sie ihre ehrenamtliche Tätigkeit erwähnt. „Es sind diese Blicke von totalem Entsetzen. ‚Das passt doch gar nicht zu dir, du bist doch in der IT-Branche‘ oder ‚Ist was passiert, dass du das machst?‘ bis hin zu ‚Musst du jetzt deine soziale Ader ausleben? Klar, du hast ja auch keine Kinder‘.“ Weiter nachgefragt wird nie.
“Die Freude auf ihrem Gesicht, wenn sie an ihrem Kaffee nippte und alles voller Schaum war – unbeschreiblich.“
Hospizbegleiterin Petra
Die erste Begleitung ist wie die erste Liebe
Anfang 2020. Die Ausbildung ist beendet und es geht los für Petra. Sie kann eine persönliche No Go-Liste schreiben, welche Klienten sie nicht begleiten möchte. Bei anderen Hospizbegleiter*innen steht darauf: Keine Männer, keine Raucher, keine Haustiere. Bei Petra gibt es keine No Go-Liste. „Die Chemie muss stimmen, alles andere ist mir egal.“
Petras erste Klientin heißt Elena*, ist 59 und hat nach einem Zuckerschock einen gravierenden Sauerstoffmangel erlitten. Gehirn und Organe sind schwer geschädigt. Mehr weiß Petra nicht, als sie an diesem Januartag das Zimmer des Altenheims betritt. Eine kleine zarte Frau mit strähnigem Haar sitzt schief in ihrem Rollstuhl. Sie reagiert nicht auf Ansprache. Der einzige Anknüpfungspunkt: Ein Bildband von Sizilien in Elenas Krankenzimmer.
Einmal pro Woche besucht Petra Elena nun für ein paar Stunden. Schritt für Schritt findet die Hospizbegleiterin immer mehr über ihre Klientin heraus. Google verrät ihr: Elena hat als Programmiererin gearbeitet, spricht fließend italienisch und französisch. Das Thema Italien wird zum verbindenden Element. Petra kramt im Keller alte Eros Ramazotti-CDs raus und besorgt einen Ghetto-Blaster. Mit Italo-Pop-Beschallung schiebt sie Elena im Rollstuhl durch den Münchener Vorort zum italienischen Café. Cappuccino trinken. Oder noch besser Affogato, Espresso mit einer Kugel Vanilleeis.
Was Elena wirklich wahrnimmt oder nicht, ist schwer zu sagen. „Doch die Freude auf ihrem Gesicht, wenn sie an ihrem Kaffee nippte und alles voller Schaum war – unbeschreiblich.“
Petra behandelt sie einfach ganz normal. Sie nimmt die Einschränkungen zwar wahr, gibt ihnen aber kein Gewicht. „Nicht abhauen!“, sagt sie, wenn sie Elena kurz im Rollstuhl parkt. Und erinnert in ihrer hemdsärmeligen Herzlichkeit unvermittelt an Driss, den unkonventionellen Pfleger aus dem Kinohit „Ziemlich beste Freunde“.
Bei einem der Ausflüge mit dem Rollstuhl durch die Straßen passiert etwas Unerwartetes. Eine Frau hält in ihrem Wagen neben Petra an, lässt das Fenster runter und schnauzt sie an. Unverantwortlich sei es, mit einer Rollstuhlfahrerin auf der Fahrbahn zu laufen. „Dabei war in dem Bereich der Gehweg einfach so schadhaft, dass ich mit dem Rollstuhl auf die Straße wechseln musste.” Kaum ist die Frau weiter gefahren, flüstert Elena ‚Blöde Kuh!‘ „Da wusste ich: Sie bekommt viel mehr mit, als man vielleicht denken würde.“
Elenas Begleitung dauert ein dreiviertel Jahr. Dann verschlechtert sich ihr Zustand rapide. Petra kann sich noch wenige Stunden vor ihrem Tod von ihr verabschieden. „Zur Beerdigung bin ich nicht gegangen, irgendwie hatte ich nicht das Bedürfnis danach. Aber mit der ersten Begleitung ist es wie mit der ersten Liebe – die vergisst man nie.“
Mal traurig zu sein, das ist okay und dem sollte man auch Raum geben. „Ich denke oft: Das ist so ein kurzer Zeitraum, den ich diese Person wahrscheinlich kennen werde. Das ist sehr schade. Aber ich hadere auch nicht mit dem Schicksal und frage, ob das gerecht ist. Dafür sind andere zuständig.“ Der Hospizkreis bietet alle sechs bis acht Wochen eine Supervision an für die Begleiter*innen. Hingegangen ist Petra bisher nicht. „Ich habe eine gute Resilienz, ich brauche das nicht.“
“Diese Menschen wollen alles, aber kein Mitleid.“
Hospizbegleiterin Petra
Die größte Herausforderung
Was brauchen Menschen am Ende ihres Lebens? „Jemanden, der einfach da ist und zuhört.“ Hospizbegleiter*innen übernehmen keine pflegerischen Aufgaben. Sie können sich ganz dem Klienten widmen und durch ihre Anwesenheit Pflegepersonal und Angehörige entlasten. „Ich bin für´s Vergnügen da, ich muss nicht vernünftig sein. Meine Aufgabe ist es, den Leuten die letzte Zeit so schön wie möglich zu machen“. Die größte Herausforderung dabei: „Die eigene Annahme, was gut für diese Person ist, an die hinterste Stelle zu verbannen. Normalerweise weiß man sofort, was diese Person möchte“, sagt Petra augenzwinkernd. „Die will jetzt sicher an die frische Luft, sie sitzt ja hier schließlich den ganzen Tag drinnen. Dann werden Fenster aufgerissen und Spaziergänge gemacht. Blinder Aktionismus. Es ist übergriffig, dem anderen eigene Vorstellungen überzustülpen“.
Es reicht, wenn man einfach da ist, sich Zeit nimmt. Mit den Gedanken spazieren geht. Vorliest. Ein Stück der Welt da draußen mit rein bringt. Dazu gehört natürlich viel Einfühlungsvermögen. Und das Hadern, die Wut, die Traurigkeit seines Gegenübers im Angesicht des Todes auch einfach mal auszuhalten und nicht zu überspielen oder wegzuquatschen.
Eine Gebrauchsanleitung gibt es nicht. Petra hat sich bei jeder ihrer vier Begleitungen auf die individuelle Persönlichkeit ihrer Klienten eingelassen. Sich mit jedem Besuch vorgetastet und dann zurechtgeruckelt. Was bei allen aber gleich ist: „Diese Menschen wollen alles, aber kein Mitleid.“
“Leben ist das, was in einem drin passiert.“
Hospizbegleiterin petra
Angst vor dem Tod
Hat Petra Angst vor dem Tod? „Nö“, lacht die 52-Jährige. „Ich weiß ja nicht, was passiert. Wie er kommt. Wann er kommt. Da wo Licht ist, sitzt auch der Schatten mit am Tisch. Das gehört einfach zum Leben dazu.“ Jeden Tag zu leben, als wäre es der letzte – davon hält Petra nichts. „Diese Sinnsprüche wie „Carpe Diem“, die Bucket-Lists, all diese nach außen getragene Lebensfreude, das ist nichts für mich. Leb doch einfach. Ich finde Leben ist das, was in einem drin passiert.“ Ehrlichkeit zu sich selbst, statt medial vermitteltem Pseudo-Bewusstsein. Der eine spürt das pure Leben bei der Achtsamkeitsmeditation im Detox-Kloster. Der nächste beim Delfinschwimmen. Und wieder ein anderer bei einem Bierchen vor dem Fernseher.
Was sie von ihren Klienten auf jeden Fall gelernt hat: Für die Zeit vor dem Tod eine Liste anlegen, mit Dingen, die einem wichtig sind. „Ich stell mir das furchtbar vor, in einem Pflegeheim zu liegen und mich nicht mehr mitteilen zu können. Und dann bekomme ich jeden Morgen Kaffee, obwohl ich den hasse und lieber Tee trinke. Oder jemand liest mir die ganze Zeit Märchen vor, obwohl ich lieber Shakespeare mag.“ Ihre eigene Liste ist vorbereitet. Vegetarisches Essen steht drauf. Wasser ohne Blubb. Und dass sie Körperkontakt mag.
Den typischen Klienten oder die typische Klientin gibt es nicht. Petras aktuelle Begleitung ist Hilda*, eine vornehme alleinstehende Dame Ende 60. Komplett metastasiert, doch sie will sich dem Krebs nicht geschlagen geben. Jeden Morgen legt sie ihr elegantes Kostüm und die Perlenkette an wie eine Rüstung und trotzt dem Tod. Mit ihr kann Petra über Südafrika reden, ein Land, das sie beide gut kennen. Oder zu Lesungen ins Literaturhaus gehen. Eher ungewöhnlich, dass eine Klientin noch so mobil und fit ist. Viele beherrschen nicht einmal mehr ihr Sprachzentrum.
Auf die Frage, ob Petra über ihre angedachte Rolle als Hospizbegleiterin hinaus für Hilda da und auch im Moment des Todes an ihrer Seite wäre, antwortet Petra ohne zu zögern: „Ja, ich würde Händchenhalten bis zum letzten Atemzug wenn sie das möchte“. Wann dieser Zeitpunkt da sein wird ist ungewiss.
Das Miss Marple-Klischee
Wie sieht denn jetzt die typische Hospizbegleiterin aus? „Ich glaube, dass es in der Öffentlichkeit immernoch ein Bild gibt von einer älteren Dame, so Miss-Marple-mäßig, die da sitzt, mit ihren Stricknadeln klappert und Sachen sagt wie „Noch ein Teechen?“, beschreibt Petra das gängige Klischee. Ihr Lachen ist ansteckend. Sie gestikuliert wild. Krümel ihres Zitronenkuchens fallen von der Gabel.
Das Image der Hospizbegleitung ist zu Unrecht verstaubt. Doch gerade vollzieht sich ein Wandel. Es gibt immer mehr junge Ehrenamtliche, die erkannt haben, wie bereichernd es sein kann, wenn man den Tod in sein Leben lässt. „Wenn ich den Mut und das Feuer in den Augen dieser Menschen sehe, denke ich, es kommt drauf an, zu leben bis zum Schluss. Nichts aufzuschieben. Und auch die kleinen Dinge im Leben zu genießen und wertzuschätzen.“
Quelle: BambuleTV
Autorin: Anna Junker